Gottesdienst am 1. Januar 2012 in der Frauenkirche Dresden –
die Predigt zu 2. Korintherbrief 12,9 wurde gehalten vom Vorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland Präses Nikolaus Schneider
Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren.
Wie kann man ein neues Jahr besser beginnen als mit einem Lob- und Danklied?
Zumal in dem nun beginnenden Jahr 2012 die Evangelische Kirche in Deutschland das Themenjahr „Reformation und Musik“ im Rahmen der Lutherdekade begeht. Lobe den Herrn, wird uns in der Kantate von Johann Sebastian Bach durch diesen Gottesdienst begleiten.
Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Predigt 1 Ein neues Jahr hat begonnen, liebe Gemeinde in der Frauenkirche und an den Fernsehgeräten.
Viele große Hoffnungen und viele kleine Wünsche bewegen unsere Herzen heute, am Neujahrstag.
Gut, wenn wir alle unsere Hoffnungen und Wünsche einbetten können in die Gewissheit:
Das Neue Jahr ist das Jahr des HERRN 2012!
Ein Jahr des HERRN,
dessen herrliches Regiment wir mit der wunderbaren Musik Johann Sebastian Bachs in diesem Gottesdienst loben – einerseits.
Andererseits ein Jahr des HERRN,
dessen Wege uns oft so befremdlich sind,
dass Fragen und Zweifel unser Lob ersticken.
Aus der Bibel wissen wir für alle Fälle:
Ein Jahr des HERRN,
der an seiner Gnade und Menschennähe festhält,
was immer auch in unserem Leben und in unserer Welt geschieht.
Unser Leben ist voller Gegensätze:
Es gibt Tage, die lassen uns “himmelhoch jauchzen” vor Glück. Wir fühlen uns geliebt, beschenkt und wertgeschätzt von Gott und von Menschen. Wir strotzen vor Kraft und es gelingt einfach alles, was wir planen, anpacken und umsetzen.
Es gibt aber auch Tage, die uns “zu Tode betrübt” sein lassen. Wir fühlen uns unverstanden, missachtet und ausgenutzt. Wir sind müde und ausgebrannt. Nichts will uns gelingen. Und Gott scheint unsere Gebete nicht einmal zu hören.
Auch unsere Welt erleben wir voller Gegensätze:
es gibt “Wunder-volle” Landschaften und Naturerfahrungen, so dass wir darin einen Gottesbeweis zu erkennen meinen.
Aber wir hören auch von Naturkatastrophen.
Es gibt “Wunder-volle” Musik wie die Bachkantaten und so “Wunder-volle” Gebäude wie diese Kirche, dass wir von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen wirklich überzeugt sind. Aber daneben gibt es Terror, Krieg und Gewalt. Und wir lesen von Menschen, die andere Menschen verachten, missbrauchen und töten.
Und das Gotteslob bleibt uns im Halse stecken.
Und das Vertrauen auf Gottes Gnade und Menschennähe will uns vergehen.
Genau in diese Situation hinein, in die Tage und in die Erfahrungen, die Menschen zweifeln lassen an Gottes Macht und Gottes Liebe, spricht die Jahreslosung für das Neue Jahr:
“Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.”
Es ist eines der tiefsten Worte des Apostels Paulus und auch eines der persönlichsten:
Paulus berichtet von seiner Krankheit. Er nennt sie seinen “Pfahl im Fleisch”. Er fleht zu Gott um Heilung. Doch Gott schlägt diese Bitte ab.
“Gib dich mit meiner Gnade zufrieden.” – Was für eine enttäuschende Antwort auf das Gebet eines Leidenden!
Alle Fragen nach dem “Warum?” des Leidens bleiben unbeantwortet.
Und warum die Bitte abgeschlagen wird, wird auch nicht erklärt.
Viele von uns teilen diese Erfahrung und diese Enttäuschung des Apostels.
Auch unsere Fragen nach dem “Warum?” bleiben oft unbeantwortet.
Warum muss gerade der Mensch sterben, den ich doch so sehr liebe und brauche?
Warum lässt Gott es immer wieder zu, dass Tausende an Naturkatastrophen sterben?
Warum erhört Gott aufrichtige Gebete um Heilung und Rettung nicht?
Gott mutet uns unbeantwortete Fragen und Enttäuschungen zu.
“Ent-Täuschung” heißt aber:
Uns wird etwas genommen, worin wir uns getäuscht haben und worin wir uns auch gerne weiter täuschen würden:
– dass wir mit unserer eigenen Kraft unser Leben absichern können,
– dass unsere Erwartungen an das Leben berechtigt sind,
– dass Gott uns für unsere guten Taten mit Glück und Erfolg belohnt,
– dass der Glaube an Gott uns vor Leiden bewahrt.
Gott mutet Menschen Enttäuschungen zu. Und das “warum” bleibt oft rätselhaft. Manche Menschen zerbrechen darüber.
Bei anderen aber werden gerade durch Enttäuschungen die Herzen geöffnet für die Erfahrung: Gottes Gnade und Menschennähe sind genug. Sie genügen als Fundament des Lebens.
Paulus hat erkannt: Das unbedingte Zutrauen in die eigene Kraft, in das eigene Können und die eigene Stärke muss erst ent-täuscht werden, damit Gottes Kraft in Menschen wirken kann.
Mit leeren Händen können wir Gottes Fülle ergreifen!
Sologesang „Ich steh vor dir mit leeren Händen“ EG 382, 1+2; GL 621
1. Ich steh vor dir mit leeren Händen Herr,
fremd wie dein Name sind mir deine Wege.
Seit Menschen leben, rufen sie nach Gott;
Mein Los ist Tod, hast du nicht andern Segen.
Bist du der Gott, der Zukunft mir verheißt?
Ich möchte glauben, komm du mir entgegen.
2. Von Zweifeln ist mein Leben übermannt,
mein Unvermögen hält mich ganz gefangen.
Hast du mit Namen mich in deine Hand,
in dein Erbarmen fest mich eingeschrieben?
Nimmst du mich auf in dein gelobtes Land?
Werd’ ich dich noch mit neuen Augen sehen?
Predigt 2
Unser Gottvertrauen, liebe Gemeinde, ist kein Bollwerk gegen Anfechtungen und Zweifel. Und auch keine Absicherung gegen Krankheit, Unglück und Versagen.
Immer wieder neu stehen wir mit leeren Händen vor Gott und rufen nach “leibhaftigen” Erfahrungen seiner Gnade in unserem Leben und in unserer Welt.
Gott mutet Menschen unbeantwortete Fragen und Ent-Täuschungen zu. Aber er lässt uns mit diesen Fragen und Enttäuschungen nicht allein.
Gott kommt uns in seinem Wort entgegen, damit wir lernen, ihn mit neuen Augen zu sehen (vgl. EG 382, 1+2).
Das galt damals in Korinth zu Zeiten des Paulus und das gilt auch für uns heute, zu Beginn des Neuen Jahres 2012.
Damals wie heute leiden Menschen an gefühlter und augenscheinlicher Gottesferne.
Und damals wie heute hilft der Blick auf Jesus Christus, um Gott mit neuen Augen zu sehen. Um Gottes Kraft in der Schwachheit zu erkennen.
Das hat der Apostel Paulus erkannt und der jungen Gemeinde in Korinth ans Herz gelegt. Und das ist auch für uns heute der Blick, den ich Ihnen ans Herz legen möchte.
Sehen wir auf Jesus Christus in Gethsemane (>Altarbild!):
Er schämt sich seiner Schwachheit nicht. Er zeigt Angst vor Leiden und Sterben und fleht um Verschonung.
Zugleich aber weiß er sich getragen von der unzerstörbaren Kraft Gottes, so dass er seinen Weg gehen kann. Deshalb vermag er zu beten: “Abba, mein Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst!” (Markus 14, 36). Hier wird offenbar, wie Gottes Kraft in seiner Schwachheit mächtig ist.
An Jesu Christi Kreuz und Auferstehung können wir sehen:
Die Erfahrungen von Leiden und Sterben, Krankheit, Unrecht und Gewalt gehören zum Leben von Menschen auf dieser Welt – auch die Erfahrungen von unerfüllten Wünschen und unerhörten Gebeten. Aber diese Erfahrungen behalten nicht das letzte Wort. Denn das Evangelium bezeugt uns auch heute: Gott hat Jesus Christus auferweckt von den Toten.
Deshalb ist unser Los nicht der Tod. Deshalb hat Gott andern Segen für uns.
In Jesus Christus sind unsere Namen in Gottes Hand und Erbarmen fest eingeschrieben (vgl .EG 382, 1+2).
Gott will und kann auch uns auferwecken zu neuem, unvergänglichen Leben in seinem ewigen Reich. Die leuchtende Krone des Lebens ist uns versprochen. Mit einem neuen Himmel und einer neuen Erde wird Gott auch uns eine neue Existenz erschaffen.
In diesem vertrauensvollen Blick auf das Leiden und auf die Auferstehung Jesu Christi erkennen wir Gottes Gnade als eine wirkmächtige Kraft gerade in Schwachheit und in schweren Zeiten des Lebens – das soll auch für uns gelten.
In unserem Blick auf Jesus Christus wird Gottes Wort an Paulus zu einem “Wort der Gnade” für uns heute:
“Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.” Darauf können wir vertrauen.
Heißt das: Gott ist keine Adresse für unsere großen Hoffnungen und unsere kleinen Wünsche? Taugt unsere Bitte um Bewahrung vor dem Bösen nicht?
In ihrem Gedicht “Bitte” hat Hilde Domin es so zugespitzt:
“Wir werden eingetaucht
und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen
wir werden durchnäßt
bis auf die Herzhaut
Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch, verschont zu bleiben
taugt nicht
Es taugt die Bitte
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden
Und dass wir aus der Flut,
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.”
Der Glaube an Gott garantiert nicht, dass wir von Leid verschont bleiben. Der Blick auf Jesus Christus sichert uns keine Welt ohne Gewalt, Krieg und Naturkatastrophen.
Aber der Blick auf Christus lehrt uns, mit allen Enttäuschungen und offenen Fragen Gott als liebenden Vater zu sehen. An ihn können wir uns mit unseren Fragen und Wünschen wenden. An allen Orten und zu allen Zeiten.
Denn natürlich wollen wir ein heiles und gelingendes Leben. Und natürlich ringen wir mit allen Kräften um Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung.
Wir werden dabei die Erfahrung machen, dass Gott uns in den dunkelsten Stunden trägt. Er wird uns –wie dem Paulus – die Kraft schenken, mit dem “Stachel der Enttäuschungen und offenen Fragen in unserem Fleisch” zu glauben, zu lieben und zu hoffen – und nicht aufzugeben:
Die Kraft, die uns am Sinn des Lebens nicht verzweifeln lässt, auch wenn Beziehungen und Pläne zerbrechen;
Die Kraft, die uns beharrlich für den Frieden arbeiten lässt, auch wenn Terror und Gewalt unüberwindbar erscheinen;
Die Kraft, die uns zuversichtlich nach Gerechtigkeit suchen lässt, auch wenn wir die globalen Finanzverflechtungen nicht durchschauen.
Um nachhaltig auf dieser Welt zu wirken, brauchen wir die Kraft Gottes, die in unserer Schwachheit wirkt.
Deshalb ist für das Neue Jahr nicht die Bitte entscheidend, verschont zu bleiben, sondern das Gebet:
Gott, lass uns deine Gnade und Menschennähe erfahren und auf sie vertrauen in allem, was in unserem Leben und in unserer Welt geschieht.
“Sprich du das Wort, das tröstet und befreit” (EG 382,3), dass wir – wenn auch manchmal unter Tränen – singen können:
Lobet den Herren!
Amen